Wir landen mitten in der Nacht in Chennai, das früher Madras hieß und wo auch schon meine Mutter vor gut 30 Jahren bei ihrer Indienreise gelandet war. Eigentlich sollten wir von unserem Hotel am Flughafen abgeholt werden, doch auch nach mehrfachem Ablaufen des wartenden Taxi- und Hotelfahrerspaliers können wir niemanden finden. Leider gibt es angeblich auch keine ATM, auch will niemand unsere Indonesischen Rupien oder unsere Taiwan Dollar tauschen. Ein netter Hotelfahrer ruft dann unser Hotel an und bringt in Erfahrung, dass niemand auf uns warten würde und wir mit dem Taxi kommen sollen. Zum Glück können wir das Taxi gleich am Flughafen per Kreditkarte bezahlen und landen so doch noch in unserm nahegelegenen Hotel, das wir ursprünglich wegen des Abholservices und einem angeblich vorhandenen Pool gebucht hatten. Es ist mittlerweile fast 2 Uhr nachts, immer noch ca. 35 Grad heiß und die Luft in unserem Hotel steht. Zum Glück gibt es eine Airco und neben dem Doppelbett noch eine Sofa mit einzelnen Kissen, so dass wir alle ein passables Nachtlager finden.
Am kommenden Morgen bekommen wir ein lokales Frühstück und entscheiden uns, den doch sehr trüben Pool in der schon heißen Morgensonne besser zu meiden. Wir hatten schon im Voraus ein Taxi ins fast 150 Kilometer entfernte Auroville gebucht und diesmal klappt es auch und wir werden mit etwas Verspätung abgeholt. Die zweite ATM funktioniert auch mit meiner Visa Karte und so können wir auf dem Weg noch unser erstes indisches Mahl einnehmen. Die Speisekarte lässt uns etwas ratlos zurück, aber auf Anraten des Kellners essen wir Reis mit verschiedenen Currys. Schon mal ein guter Anfang und auch die Kinder finden ein paar nicht so scharf gewürzte Saucen und essen ihre ersten Chapatis.
Dank Google Maps finden wir auch unser zwischen Auroville und Puducherry gelegenes Guesthouse. Wir sind alle sofort begeistert und bekommen von Pravina, unserer Gastgeberin gleich ein sehr schönes Zimmer zugeteilt: mit Terrasse, einem Zustellbett und tollem Blick auf den schönen Garten. Die Kinder springen gleich in den sauberen Pool, wir trinken Tee und bekommen am Abend ein fantastisches Abendessen. Dann lernen wir mit Sudeep und den beiden Jugendlichen Darwa und Darvin die gesamte Familie kennen. Nelio und Liam verlieben sich sofort in die hervorragende indische Küche und beschließen, nur noch hier zu essen, da es hier das leckerste Essen überhaupt gebe.
Am nächsten Tag bekommen wir zwei nigelnagelneue Mopeds vor die Tür gestellt, mit denen wir uns in der kommenden Woche durch Auroville und Puducherry bewegen sollten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten auf den Sandstraßen und einem kleinen Ausrutscher von Sabine kommen wir gut damit klar und meistern auch den, besonders in Puducherry, echt krassen indischen Straßenverkehr. Meist fahren die Kinder mit mir mit, einer vorne und einer hinter mir, wobei vorne wesentlich beliebter ist und zu zahlreichen kleineren Streitigkeiten führt! Gleich am nächsten Tag düsen wir ins Zentrum von Auroville und besuchen das Visitor centre, wo wir eine Einführung zu Auroville bekommen und einen ersten Spaziergang zum Matrimandir machen, dem Heiligtum dieser in den früher Siebzigern begonnenen utopischen Stadtvision. Das Matrimandir wurde 1972 begonnen zu bauen und ist erst im Jahr 2008 fertig gebaut geworden!
Der geistliche und spirituelle Führer Sri Aurobindo und die charismatische Mira Alfassa, die erste weibliche geistige Führerin mit europäischen Wurzeln, französich-ägyptischer Abstammung, die hier von allen nur „die Mutter“ genannt wird, sind allgegenwärtig. Unsere Guesthouse Besitzer Pravina und Sudeep sind extra wegen dieser beiden Gurus nach Puducherry gezogen und verfügen so über ein umfangreiches Wissen über deren Lehren und Ansichten. Beim Abendessen erzählen die beiden viel und wir bekommen spannende Einblicke in die spirituellen und philosophischen Ansichten „der Mutter“.
In den nächsten 9 Tagen nähern wir uns Auroville und seinen gut 2000 dort lebenden, aus 45 Nationen stammenden Aurovillianern langsam an. Die meisten kommen aus Indien, Frankreich und Deutschland, gut ein Viertel sind Kinder und Jugendliche. Die Stadt, offiziell 1968 gegründet und vom indischen Staat, 124 Ländern und der Unesco offiziell unterstützt, ist für 50.000 Menschen konzipiert und seit mittlerweile fast 50 Jahren in Entstehung. Für uns war Auroville von Beginn an ein wichtiger Punkt unserer Reiseplanung und dementsprechend gespannt und neugierig waren wir. Im Vorfeld hatten wir bereits erfahren, dass wir in einer Zeit hier sein würden, in der die meisten Besucher und auch ein Großteil der Aurovillianer die Stadt meiden und in kühlere Gefilde flüchten würde. So ergab sich im Vorhinein kein konkretes Projekt das wir besuchen und an dem wir mitwirken könnten. Die Schulen hatten Sommerferien, die Theater- und Kunstprojekte Sommerpausen und die Verantwortlichen einfach frei und keinen Bock auf die Hitze.
Zugegeben, es war mit fast 40 Grad im Schatten oft sehr heiß und die Kinder glücklich, wenn sie zumindest ein mal am Tag in den Pool springen konnten, aber es war auch eine gute Zeit zum Erkunden dieser riesigen utopischen Siedlung, denn wir waren oft die einzigen Besucher und wurden gerne und ausführlich in das Leben hier eingeführt. Auroville lässt sich als Stadt immer noch nur erahnen, die Siedlung liegt sehr verstreut in einem riesigen Waldgebiet. Auroville kann man nur über seine Bewohner erleben und so besuchen wir alle, die wir vorher kontaktiert haben.
Auch Peter, ein alter Aurovillianer, den ich aus Besetzerzeiten aus der Kule vor 25 Jahren noch kenne, war leider nicht hier, sondern gerade in Berlin. Dafür lernten wir Ulrike kennen, die gerade in seinem Haus wohnt und mit Swaram ein spannendes Musikprojekt unterstützt, wir treffen Sarah, die schon seit über einem Jahr aus Luxemburg abgereist und zur Zeit gerade in Auroville hängen geblieben ist, wir wagen uns zum sonntäglichen potluck lunch bei Johnny und treffen uns mit Renu, die hier groß geworden ist, mit ihrem französischen Lebenspartner in einem kleine Häuschen hier lebt, das Auroville Radio organisiert und am Leben hält und deren Kinder jetzt bereits erwachsen sind. Von beiden erfahren wir viel über die Geschichte, die aktuellen Probleme und dem Alltag hinter den Kulissen oder bekommen ein paar Einblicke in die Wohn- und Lebenskultur.
Äußerlich erinnert vieles an die Architektur der frühen 70 er Jahre und immer wieder stoßen wir auf leicht futuristische Betonelemente, Pyramiden, Kuben und verschachtelte Terrassen. Auch unsere Gastgeber, die beide aus dem Norden Indiens zugezogen sind, erzählen und zeigen uns viel vom Leben in Auroville. Ihr Grundstück mit dem Guesthouse liegt dicht an der Grenze, aber außerhalb des Siedlungsgebietes, gehört also nicht zu Auroville. Das erleichtert manche Dinge für sie, lässt sie aber auch bei manchem anecken, da einigen Aurovillianern dieses Leben am Rande der Stadt nicht zu passen scheint. Neben den Zugezogenen außerhalb des Siedlungsgebietes leben noch gut 5000 tamilische Angestellte mit ihren Familien in Auroville. Je nach Saison kommen bis zu 2000 BesucherInnen und Studierende hinzu, die sich auf gut 100 Siedlungsgebiete in dem 25 Quadratmeter großen Gebiet verteilen.
Alles ist spiral- oder vielmehr galaxieförmig um das im Mittelpunkt liegende Matrimandir angesiedelt und im Laufe der vergangenen gut 40 jährigen Besiedlungsgeschichte ist aus dem einst vollkommen trockenen Sandgebiet eine bewaldete Landschaft geworden (über 2 Millionen Bäume wurden gepflanzt!), was in der sengende Hitze für Schatten und Abkühlung sorgt.
Eine unserer bewegendsten Momente war sicher der Besuch im Matrimandir! Nach mehreren Einführungen und einem Katalog an Verhaltensregeln wird man in einer Gruppe von ca. 50 BesucherInnen in das Innere der riesigen vergoldeten Kugel geführt. Über zahlreiche Gänge und Treppen geht man in den oberen Bereich der Kuppel, wo sich ein riesiger weißer Saal mit 12 Marmorsäulen und einer einzigen Öffnung in der Mitte befindet. Durch diese scheint die Sonne auf einen großen Kristall, der das Licht bricht und im Raum verteilt. In absoluter Stille wird man angehalten nicht zu reden, zu beten, sich still und ruhig zu verhalten und sich auf sich zu konzentrieren. Es sind wunderbare 20 Minuten, die man dort erlebt und wir waren beide begeistert von der besonderen Atmosphäre und Kraft, die dieser magische Ort ausstrahlt.
Ich fand auch das unter der Kugel gelegenen Marmorwasserspiel genial, in dem das Wasser langsam vom Rand hinunter in die Mitte fließt. Um das Matrimandir herum sollen zwölf Gärten entstehen, es existiert schon ein großes Amphitheater, in dem die zentralen Veranstaltungen stattfinden. Neben ihm steht als Wahrzeichen und besonderes Heiligtum ein über 100 Jahre alter Bohdi-Baum, dessen Luftwurzeln zu richtigen großen Baumstämmen geworden sind.
Da das Matrimandir erst für Kinder ab 10 Jahren zu betreten ist, sind wir abwechselnd gegangen und haben uns anschließend über unsere Erfahrungen ausgetauscht. Das war im nach hinein eigentlich sehr schön, denn so konnten wir beide ganz ungestört die Atmosphäre dieses Ortes geniessen.
Mit den Kindern haben wir zahlreiche andere Orte und Werkstätten besucht. Wir waren in zwei Töpfereien, einer Bambuswerkstatt, haben uns die riesige Solarküche angeschaut, beim Papierkörbe flechten zugeschaut und eine kleine Lampenschirmfabrik besucht.
Außerdem sind wir ein paar Mal in das ehemalig französische Puducherry gefahren, waren dort am Strand, in einer Papierfabrik, im Sri Aurobindo Ashram und im Ganesha Tempel, wo sich unser Kinder von einem großen Elefanten haben segnen lassen. In unserer schönen Unterkunft würden wir toll bekocht, haben die Kinder viel Zeit im Pool verbracht und an einem Abend nach langem Tischtennisspiel auch versehentlich ihren ersten Alkohol getrunken, da wir uns am Kühlschrank selbst bedienen konnten und keiner von uns die Marke „Breezer“ kannte. Nelio, der durstig seine Flasche leerte, war am Abend sehr lustig drauf und ging sehr vergnügt schlafen!
Am letzten Abend haben wir noch Sarah und Renu in ihren Häusern besucht und mit ihnen Interviews geführt und über mögliche gemeinsame Projekte nachgedacht. Wir sind Auroville immer näher gekommen und haben uns sehr wohl gefühlt. Es war ein toller Ort zum Ankommen in Indien: viele sagen, Auroville hat nichts mit Indien zu tun, zu europäisch oder international und doch hervorragend um in Kontakt zu kommen. Wir haben uns erholt und die indische Küche Tag für Tag näher kennengelernt. Dank Pravina, Sudeep und ihrem schönen Inn Pondiville Forest Retreat hatten wir einen wundervollen Ort, um uns in Ruhe und in familiärer Geborgenheit auf den Weg nach Auroville, nach Puducherry und damit auch nach Indien zu machen!