Istanbul – auf den Prinzeninseln, mit nachdenklichem Blick auf Asien und Europa

Geschrieben von David

Ich sitze auf der Fähre und fahre gerade auf den Bosporus und die beiden Teile der riesigen Stadt zu. Wir wollten langsam und gerne auf dem Landweg zurück nach Europa. Da es sehr kompliziert wurde, unser Auto ohne uns selbst bis nach Teheran oder Istanbul zu bringen, entschieden wir uns für die einfache EU Variante: Hans-Jörg und Kerstin fuhren mit unserem Hanibal bis Sofia und wir mit dem Flugzeug bis Istanbul.

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Hier haben wir zwei wunderschöne und erholsame Wochen auf Burgazada, einer der Prinzeninseln verlebt, sind immer wieder mit der Fähre nach Istanbul gefahren und haben mit unserer Freundin Çiğdem die Stadt erkundet. Ihre Mitbewohner haben dafür ihr kleines Häuschen geräumt und an uns vermietet, so dass wir ein kleines Zuhause mit Blick aufs Meer und den asiatischen und den europäischen Teil der Stadt hatten. Wir alle haben es genossen, dem Trubel und der Großstadt entfliehen zu können, haben selbst gekocht, waren baden und haben alle vier viel gelesen.

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Çiğdem, die als Studentin nach Braunschweig kam, als ich dort gerade aufhörte zu unterrichten, habe ich erst Jahre später in Berlin besser kennengelernt und wir haben gemeinsam an der UdK und an der Hector-Peterson Schule Kunst und Performance unterrichtet. Sie lebt seit zwei Jahren in Istanbul, arbeitet dort als Fotojournalistin und in einer deutsch-türkischen Buchhandlung, und seit gut einem Jahr auf Burgazada, einer kleinen Insel vor den Toren Istanbuls. Die“Pferdeinsel“, wie sie im Vorfeld immer schrieb, ist kaum vier Quadratkilometer groß, autofrei und wird nur im Sommer und an den Wochenenden von einheimischen Touristen frequentiert. Unser Häuschen, das hoch oben auf dem Berg gelegen ist, hat drei winzige Zimmer, Bad, eine kleine Küche und eine schöne Terrasse, auf der wir täglich ausgiebig frühstückten und zum Sonnenuntergang auf das Meer, die Skyline und die beiden Teile Istanbuls blicken konnten. Für uns hätte es kaum einen schöneren und entspannteren Ort in dieser so riesigen und an Sehenswürdigkeiten so vollen Metropole geben können!

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Wir fuhren mit dem Bus vom Flughafen zum Taksimplatz und setzten uns, da Çiğdem noch in der Buchhandlung arbeiten musste, zum Abendessen einfach in ein in der Nähe gelegenes Lokal. Frisch aus Teheran angereist mussten wir erstmal einen Kulturschock der anderen Art verkraften: Frauen in kurzen Sommerkleidern, Arm in Arm mit ihrem Freund, auf offener Straße sich küssend! Das hatten wir lange nicht mehr gesehen und wir fühlten uns fast wie in Berlin. Welcome back to Europe! Wir trafen uns dann mit Çiğdem um 22 Uhr 30 an der Fähre und bekamen auf dem Schiff unseren ersten türkischen Chai. Nach knapp eineinhalb Stunden erreichten wir die Insel und mussten, da alle Pferdekutschen schon Feierabend hatten, unser ganzes Gepäck und den schlafenden Liam den Berg hoch schleppen.

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Am nächsten Morgen frühstückten wir zusammen und erkundeten die Insel. Çiğdem führte uns an eine schöne Badestelle, zeigte uns die wichtigsten Geschäfte und die Hafenpromenade. Auch den kommenden Tag verbringen wir auf der Insel, genießen die Ruhe und haben das Gefühl, Urlaub auf einer Ferieninsel im Mittelmeer zu machen! Am kommenden Tag dann fahren wir mit Çiğdem gemeinsam nach Istanbul. Da sie heute frei hat gehen wir gemeinsam durch die Stadt. Wir beginnen am Taksimplatz und erlaufen uns Beyoglu, überqueren das Goldene Horn und schlendern über den Ägyptischen Gewürzmarkt. Auch wenn Çiğdem eisern fastet, führt sie uns mittags in ein leckeres Restaurant, erträgt unsere Saft- und Teegelüste und ist ganz euphorisch, uns ihr Istanbul zu zeigen! Wir haben Glück und finden den etwas geheimen Weg auf die Dächer der Altstadt und haben einen fantastischen Blick auf die Stadt!

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Abends kommen wir kurz vor dem Fastenbrechen in die Blaue Moschee und Çiğdem gelingt es, uns trotz unserer unverkennbaren touristischen Identität ins Innere der Moschee mitzunehmen. Wir sind beeindruckt von der Atmosphäre und dem blauen Schimmer unter der großen Kuppel. Zum Fastenbrechen sitzen wir anschließend im Garten der Moschee und werden von anderen Moslems zum Essen und Trinken eingeladen.

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Anschließend fahren wir schnell mit der Straßenbahn zur Fähre und Çiğdem bleibt alleine über Nacht in Istanbul. Wir schleppen unsere müden Kinder den Berg hinauf und sind froh, wieder in unserer kleinen Bergwohnung anzukommen. Am folgenden Tag bleiben wir wieder auf der Insel, fahren aber in den nächsten Tagen immer wieder in in die Stadt. Die Kinder lieben es, auf der Fähre Simit zu essen und Ayran zu trinken und anschließend bummeln wir durch die Stadt.

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Wir besuchen Istanbul Modern, das Museum für Moderne Kunst, die alten unterirdischen Zisternen, die sehr schöne Süleymani Moschee und Çiğdem in der deutsch türkischen Buchhandlung. Einen Tag verbringen wir auf der asiatischen Seite der Stadt, wo wir den riesigen Dienstagsmarkt besuchen, durch das mondäne Moda bummeln und am Abend das Fußballspiel Deutschland gegen Nordirland in einem Irish Pub verfolgen. Als Çiğdem wieder frei hat fahren wir am Goldenen Horn entlang und besuchen die alte Moschee in Eyüp, fahren mit der Seilbahn auf den Pier Loti und schauen uns eine griechisch othodoxe Knabenschule an.

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An einem anderen Tag spazieren wir mit Çiğdem durch Besiktas, lernen die linken Szenetreffpunkte etwas kennen und fahren mit dem Bus anschließend am Bosporus entlang. Liam und Nelio bekommen auch Fußball-Trikots von dem amtierenden türkischen Meister, die sie stolz in den nächsten Tagen in Istanbul und auf der Insel tragen. Sie entdecken beim Wildkräutersammeln noch einen kleinen Kunstrasen-Platz und abends und morgens gehen sie so lange kicken, bis der übereifrige Platzwart leider ein Schloss an der Eingangstür anbringt.

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Wir verbringen also zum Verschnaufen immer wieder mal einen Tag auf der Insel und machen auch einen Ausflug nach Adalar, auf die größte der Prinzeninseln. Dort wandern wir zu einem der größten Holzhäuser der Welt, das mächtig und leider langsam verfallend über der Insel thront und besuchen eine herrlich gelegenes griechisch-orthodoxes Kloster, wo wir bei herrlicher Aussicht zu Mittag essen.

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In die berühmte Hagia Sofia gehen wir abwechselnd und ohne die Kinder und so haben wir beide mal einen halben Tag für uns in Istanbul. Hier muss ich viel an die Erzählungen und Reisen meines Vaters denken, der bereits in den 70 und 80 er Jahren begeistert durch Istanbul und seine phantastischen Moscheen gepilgert ist.

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Die Kinder rennen am liebsten Fußball spielend, einem kleinen lila Plastikball hinterher, über die Insel, streicheln die zahlreichen Katzen und genießen das Gefühl, wieder an einem Ort angekommen zu sein. Aber auch Istanbul gefällt ihnen sehr und sie ziehen tapfer mit uns durch die diversen Stadtviertel, Bazare und Moscheen, lieben den türkischen Schokopudding, die Istanbuler Straßen-, Seil- und Zahnradbahnen, das tägliche Fährefahren und die vielen rum streunenden Kätzchen. Wir alle verstehen uns sehr gut mit Çiğdem, nehmen sie als Schwester und Tochter in unsere Familie auf und genießen es, dass wir durch sie Einblicke in die türkische Kultur und Seele erhalten.

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Sabine und ich lesen während unseres Aufenthalts noch Orhan Pamuks „Museum der Unschuld“, welches wir dann natürlich auch gleich in situ besuchen müssen. Auch das Buch tut seinen Teil, dass wir der Stadt näher kommen und beide ganz angetan sind. Istanbul ist groß und großartig und wir bereuen es nicht, dass wir uns Zeit genommen haben, die Stadt auf uns wirken zu lassen. Dank Çiğdem haben wir auch viel von den Problemen und Protesten innerhalb Istanbul und der Türkei mitbekommen.

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Unsere abendlichen Diskussionen und die Berichte von Çiğdem bringen uns die anstehenden Konflikte und Themen von Migration, Ausgrenzung und Fremdenunfreundlichkeit wieder gut ins persönliche Sichtfeld. Wir bestaunen die moderne Türkei, sind angetan von dem sehr gut organisierten und ausgebauten öffentlichen Verkehrsnetz und werden auch hier wieder herzlich und freundlich in Empfang genommen. Auch hier existiert wieder eine Willkommenskultur, die es zumindest für die Reisenden aus dem westliche Ausland zu einem angenehmen und sehr attraktiven Reiseziel macht.
So haben wir am Ende der zwei Wochen alle Istanbul und Çiğdem in unser Herz geschlossen und reisen mit einem „wir kommen gerne wieder“ weiter in Richtung Europa. An unserem letzten Tag fahren wir abends mit der Fähre nach Istanbul und dann mit dem Nachtbus in Richtung Bulgarien und Sofia, wo unser Hanibal bereits auf uns wartet und wir uns freuen, in den kommenden sechs Wochen langsam und gemütlich in Richtung Deutschland zu fahren…

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Nachtrag von Sabine:
Unsere Entscheidung mit dem Nachtbus zu fahren, war wohl eine der besten unserer Reise. Zeitgleich als wir in den Bus stiegen und Istanbul verließen, ereignete sich auf dem Istanbuler Flughafen der mittlerweile 5. Terroranschlag dieses Jahres! Çiğdem hatte uns vor unserer Reise regelrecht gewarnt und uns abgeraten nach Istanbul zu kommen. Wir haben uns trotzdem dafür entschieden, diese wunderschöne Stadt zu besuchen und wollten auch mitbekommen, wie die Atmosphäre in der Stadt und in der Türkei momentan ist.
Vieles was wir in den letzten beiden Wochen gesehen und gehört haben, bekomme ich in meinem Kopf nur schwer zusammen. Einerseits das weltoffene, moderne Istanbul, die jungen Istanbuler, die ich mir eins zu eins auch in Kreuzkölln vorstellen kann, dann aber radikale Angriffe auf Radiohead Fans die während des Ramadans feiern und Alkohol trinken (obwohl das alle anderen in den umliegenden Kneipen auch tun), die Pride Parade, die nicht statt finden darf, wegen Sicherheitsbedenken. Anstatt Schwule und Lesben zu schützen, werden die wenigen, die sich auf die Straße wagen „zu ihrem eigenen Schutz“ von der Polizei mit Pfefferspray und Gummigeschossen von der Straße vertrieben.
Die muslimische Oma, die mich und Çiğdem in der Moschee erst wegen unserer nur wadenlangen Röcke rügt, mir dann aber versucht, die richtige Gebetshaltung beizubringen. Die alte Frau, die in der Moschee neben uns sitzt, uns anschaut und (wegen Çiğdems kurdischen Kopftuch!?) plötzlich von uns abrückt als hätten wir die Beulenpest, der freundliche Seilbahnwärter, der erst mit Çiğdem rum schäkert und uns dann mit dem Zuruf, „du musst deine Freunde mal islamisieren“ auf den Berg schickt, der syrische Flüchtling, der mir auf einer Parkbank sein ganzes Leid klagt und ich, immer stiller werdend, wissend, immer weniger erwidern zu können als stille Zustimmung und ihm die Ungerechtigkeit seines Schicksals zu bezeugen.
Istanbul erinnert mich auch sehr an Berlin, denn die Stadt ist voller Tradition und Religion, aber auch absolut säkularisiert und modern. Einfach eine spannende Mischung, und es tut mir im Herzen weh zu wissen, dass sie nach diesem neuen entsetzlichen Anschlag ein Stück mehr von der Angst regiert werden wird!